Der spoga horse Ländercheck (14): Die Pferdebranche in Großbritannien
In wohl keinem anderen Land Europas gibt es mehr Reitsportfachgeschäfte als in Großbritannien. Nicht ohne Grund. Großbritannien ist die Heimat des Pferderennens. Englische Vollblüter gelten als die schnellsten (und teuersten) Rennpferde der Welt. Großbritannien wäre ohne seinen Reichtum an Pferden – von Vierbeinern im Spitzensport bis zu kleinen Familien-Ponys – undenkbar. Pferde sind ein wesentlicher Teil des britischen Erbes. Etwa fünf Prozent Millionen Briten (über drei Millionen) reiten mindestens einmal im Jahr. Allen voran das Staatsoberhaupt. Königin Elizabeth II. steigt selbst im Alter von 90 Jahren noch in den Sattel.
Hinweis: Es handelt sich um teilweise gekürzte Fassungen der ursprünglich im Fachmagazin „ReitsportBRANCHE“ erschienen Artikel von Sebastian Reichert. Wenn Sie Interesse an den vollständigen Publikationen haben, können Sie die die komplette Ländlercheck-Serie über info@reitsport-branche.com bestellen.
Die Britische königliche Garde zu Pferd, Photocredit: Anni Spratt, Unsplash
In Teil 5 unserer Serie „Länder-Check“ stellen wir Großbritannien und seine Reitsportbranche vor.
„Großbritannien hat eine lange und illustre Reitergeschichte“, sagt Deborah Hayward, Pressesprecherin der britischen Fachhandlsmesse BETA International. „Alle Vollblüter können auf drei arabische Hengste zurückverfolgt werden. Pferde spielen eine Schlüsselrolle in Freizeit, Sport und Handel.“ „Reiten und vor allem die Jagd sind seit Jahrhunderten ein Sport unseres Landes“, ergänzt Malcolm Ainge, Vorstandsvorsitzender des britischen Unternehmens Shires Equestrian Products. „Der Pferderennsport ist auch als der „Sport der Könige“ bekannt. Er ist ganz eng mit der Monarchie verknüpft“, fügt Simon Middleton, Geschäftsführer von Zebra Products, an.
Königin Elizabeth II. in einer Kutsche während der Eröffnung des Parlaments, Photocredit: Annie Spratt, Unsplash
Europas größter Inselstaat
Großbritannien (eigentlich laut Eigenbezeichnung: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland) ist mit rund 66,5 Millionen Einwohnern – hinter Deutschland und nach neuesten Zahlen knapp vor Frankreich – der zweitbevölkerungsreichste europäische Staat und der größte Inselstaat Europas. Die auf den Britischen Inseln vor der Nordwestküste Kontinentaleuropas gelegene Atommacht ist eine Union aus den Landesteilen England, Wales, Schottland und Nordirland. Bei einem Referendum im Juni 2016 stimmten die Wähler mit 51,8 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union („Brexit“). Experten rechnen mit dem tatsächlichen Verlassen der EU im März 2019.
Das Vereinigte Königreich besteht aus der Hauptinsel Großbritannien und etwa einem Sechstel der Insel Irland. Um die Hauptinsel herum liegen etwa 800 kleinere Inseln. Die einzige Landgrenze besteht auf der Insel Irland zur Republik Irland. Diese ist 360 Kilometer lang. Als parlamentarische Monarchie unterhält Großbritannien außerdem Beziehungen zu 15 Commonwealth Staaten, deren Staatsoberhaupt die britische Königin Elisabeth II. ist. Darüber hinaus existieren 14 britische Überseegebiete – darunter unter anderem Gibraltar, die Falkland- und die Kaimaninseln.
Die Südküste Englands, mit seiner wunderschönen Landschaft, Photocredit: Jose Llamas, Unsplash
British Equestrian Federation
Dachverband aller Pferdesportler ist die 1925 gegründete British Equestrian Federation (BEF). Die Föderation setzt sich aus 19 Reitsportorganisationen zusammensetzt (und nicht aus Einzelpersonen). Dazu gehören zum Beispiel British Dressage (BD), British Eventing (BE), British Showjumping (BS) und The Pony Club (PCUK), aber auch die British Equestrian Trade Association (BETA). Von den 19 BEF-Organisationen hat die British Horse Society (BHS) die meisten Mitglieder – nämlich 91.000. Der Pony Club ist eine 1929 gegründete internationale Jugendwohltätigkeitsorganisation. Er hat etwa 30.000 Mitglieder, betreibt im Königreich 345 Filialen und 480 Zentren und ist damit nach eigenen Angaben die weltweit größte Jugendreitorganisation.
Frauen haben die (Reit-)hosen an
Anders als in Deutschland müssen Reiter nicht Mitglied im Dachverband oder seinen Organisationen sein, um an Wettbewerben teilnehmen zu können, erklärt die BETA auf Nachfrage von Reitsport BRANCHE. Nach eigenen Angaben vertritt der britische Nationalverband die Belange von etwa 210.000 Reitern oder Pferdesportliebhabern. Regelmäßig in den Sattel steigen jedoch viel mehr Menschen in Großbritannien: 4,3 Prozent der Briten geben an, mindestens einmal im Jahr zu reiten. Laut BETA („National Equestrian Survey“) ging die Zahl der regelmäßigen Reiter seit 2011 von 1,6 Millionen innerhalb von vier Jahren um 300.000 zurück.
74 Prozent (also 962.000) der aktuell insgesamt 1,3 Millionen regelmäßig reitenden Briten sind weiblich. Nur Netball – ein körperkontaktloses Korballspiel – hat im Land einen noch größeren Anteil an Frauen. 300.00 Frauen reiten sogar mindestens einmal in der Woche. Fast neunmal so viele Frauen wie Männer reiten wöchentlich.
Warwick Castle, War of the Roses 2019, Photocredit: Fas Khan, Unsplash
Rennsport – königlicher Nervenkitzel
Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 gewann das Equestrian Team GBR zweimal Gold und einmal Silber. Die paraolympischen Reiter strichen sogar elf Medaillen ein. Bei den Heim-Spielen 2012 in London überzeugten vor allem die Teams: Silber für die Vielseitigkeitsreiter, Gold für Dressur- und die Springreiter. Zudem standen in der Einzel-Dressur noch Charlotte Dujardin (Gold) und Laura Bechtolsheimer (Bronze) auf dem Podium.
Obwohl nicht olympisch, ist jedoch der Pferderennsport laut BHS der Sport, der in Großbritannien nach Fußball auf das größte Zuschauerinteresse stößt. Vier der zehn bestbesuchten Sportveranstaltungen (exklusive der Olympischen Spiele) 2012 waren demnach Pferderennen. In diesem Jahr gingen 5,5 Millionen Menschen zu den Rennen. „Ich kenne den Nervenkitzel, den die Teilnahme als Rennpferd-Besitzer mit sich bringt“, sagte die britische Königin Elizabeth II., als sie 2015 das traditionelle Pferderennen Royal Ascot auf der berühmten Rennstrecke nahe Windsor eröffnete. Die Top-Ten-Springreit-Veranstaltungen besuchen jedes Jahr über 1,2 Millionen Menschen.
Rennsport – ein Spektakel
Pferdesport Nummer eins ist und bleibt aber der Rennsport. Im Land verteilt gibt es 62 Rennstrecken, die pro Jahr rund sechs Millionen Besucher anziehen. Das berühmteste Rennen ist wohl der Grand National auf dem Aintree Racecourse bei Liverpool. Und die prominenteste Rennpferdzüchterin ist die Königin. Ihre Vollblüter gewinnen sogar gar nicht selten Preise.
Am ersten Tag des fünftägigen Spektakels in Ascot dreht die Monarchin traditionell mit einer Kutsche eine Runde über die Strecke. Mindestens genau so viel Aufmerksamkeit wie die Pferde erhalten bei dem jährlichen Pferderennen die Hüte der Damen. Jedes Jahr wird darauf gewettet, welche Farbe der Hut der Königin hat.
Allein mit Pferderennen wurden in Großbritannien 2012 etwa 4 Milliarden Euro (mit einem Steuerbetrag von 324 Millionen Euro) erwirtschaftet. Die BETA gibt an, dass Großbritanniens gesamte Reiterindustrie aktuell auf etwa 7 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wird. Dazu gehören 3,8 Milliarden Euro aus dem Freizeit- und Sportmarkt sowie 3,2 Milliarden Euro aus Pferderennen. Für den Unterhalt von Pferden werden jährlich etwa 3,3 Milliarden Euro ausgegeben – 3700 Euro pro Pferd. Andere indirekte Konsumausgaben im Zusammenhang mit Reittätigkeiten werden auf 642 Millionen Euro geschätzt.
Traditionales Pferderennen in England, Photocredit: James Anthony, Pexels
Fachhandel – unabhängige Einzelhändler
Etwa 85.000 Personen lebten 2012 von einer Beschäftigung, die direkt oder mittelbar in Beziehung zum Pferderennsport steht. Insgesamt sind in der Pferdesportindustrie 250.000 Menschen direkt oder indirekt beschäftigt. Auf der Insel arbeiten zum Beispiel etwa 2800 Hufschmiede – in Deutschland arbeiten etwa ähnlich so viele Menschen in diesem Beruf. Die britische Equestrian Trade Association (BETA) vertritt über 800 Mitgliedsunternehmen. Darunter sind etwa 400 Fachhandelsgeschäfte, aber auch Großhändler Hersteller, Vertreter und viele dienstleistende Unternehmen.
„Das Hauptmerkmal des britischen Pferdesportfachhandels ist die Anzahl der unabhängigen Einzelhändler“, sagt Malcolm Ainge von Shires Equestrian Products. Nach BETA-Schätzungen gibt es insgesamt etwa rund 2600 Pferdesportfachhandelsgeschäfte. Im Land existieren zudem mehrere – mitunter aus landwirtschaftlichen Genossenschaften entstandene – Ketten, wie zum Beispiel „Countrywide Farmers“, „Country Store“ und „Mole Valley Farmers“. Im Sortiment in ihren bis zu 50 Filialen nimmt Reitsportausrüstung einen Hauptteil ein. Größere Ketten, die ausschließlich Reitsportartikel verkaufen, gibt es aber nicht.
Leder: Schwerpunkt in Walsall
Ein Schwerpunkt der internationalen Lederherstellung bildet die 170.000-Einwohner-Stadt Walsall, etwa 20 Kilometer nördlich von Birmingham im Landesinneren gelegen. Dort produzieren aktuell immer noch etwa 40 Unternehmen Pferdesattel und Zaumzeug. Dazu zählen unter anderem Fairfax, County, Exselle, Albion, Kent, Thorowgood und King's. „Historisch gesehen sind in Walsall sehr viele der britischen Gerbereien beheimatet“, führt Hayward aus.
Turnier: Schauen und Shoppen
„In England hat das Einkaufen auf den großen Turnieren tendenziell eine größere Bedeutung als in Deutschland“, berichtet Dennis Brömlage von Schockemöhle Sports. „Die Briten haben vielleicht eine etwas andere Mentalität in Bezug auf das Einkaufsverhalten. Die Shows sind dort echte Happenings. Die Besucher gucken sich den Sport an und gehen dann shoppen. In Deutschland liegt der Fokus bei den Turnieren tendenziell mehr auf dem Sport.“ Für Schockemöhle Sports ist Großbritannien in den vergangenen fünf, sechs Jahren zu einem sehr wichtigen Markt geworden. „Nach Deutschland ist es der wichtigste Markt in Europa für Schockemöhle Sports.“
2018 kamen zu der britischen dreitägigen Fachmesse im Birminghamer National Exhibition Centre (NEC) mit 300 Ausstellern nach Messeangaben 3400 Besucher. Die spoga horse Frühjahr zählte zum Vergleich 3700 Fachbesucher und 182 Aussteller. „Die BETA hat einen eher nationalen Charakter“, sagt Brömlage. „Dort präsentiert sich vornehmlich der englische Markt.“
Britischer Markt – eine Wundertüte
Und wie entwickeln sich die Fachhandelsbeziehungen mit Deutschland in Folge des Ende März 2017 in Gang gesetzten EU-Austritts Großbritanniens? „Außer, dass das britische Pfund an Wert verloren hat, was für uns auch Vorteile hat, ist ja bis jetzt noch nichts passiert“, erklärt Brömlage. „Es sind noch keine größeren Auswirkungen zu spüren, wobei es schon einen psychologischen Moment gibt. Was die zukünftige Bedeutung für uns betrifft, gleicht der britische Markt aber schon ein bisschen einer Wundertüte. Die Gefahr der Handelshemmnis besteht durch den „Brexit“ mit Sicherheit. Und das hätte negative Auswirkungen für beide Seiten.“